Interview | Video

Interview mit Cathy Gelbin vom Februar 2023

Quellenbeschreibung

Bei dem hier geführten Interview handelt es sich um ein Gespräch, das Yael Reuveny im Februar 2023 mit Cathy Gelbin (Gelbin) im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin in der Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) durchführte. Gelbin war zu dieser Zeit Gastfellow am MMZ.

Das Video zeigt Ausschnitte aus einem längeren Interview aus den Sammlungen des Jüdischen Museums Berlin. Das vollständige Interview kann zu Forschugszwecken am MMZ eingesehen werden.

Sammlung: Sonstige
2023

    00:00:01 Gelbin: Der amerikanische Teil meiner Familie kam in die DDR, weil mein Stiefgroßvater Stefan Heym war, der ja in den USA im Exil war und der Anfang der 40er-Jahre in New York in kommunistischen Parteikreisen meine Großmutter Gertrude kennenlernte, Gertrude Gelbin, die verwitwet war und 13 Jahre älter als er war. Und dann, im Zuge der McCarthy-Verfolgung, sind dann Stefan und meine Großmutter Gertrude nach Europa geflüchtet, mehr oder weniger. Schnitt

    00:00:37 Gelbin: Also ich würde sagen, das Wort „Jüdisch“ war wahrscheinlich schon immer da, weil sich ja Stefan und Gertrude glaube ich auch darüber unterhalten haben. Und es war sozusagen in, für mich, unbewusster Weise immer schon da. Also für mich war es erst ganz klar, als ich ungefähr elf Jahre alt war, weil wir in der Schule ein Buch gelesen hatten, das hieß „Sally Bleistift kommt nach Amerika“ Der Titel des Buches lautet „Sally Bleistift in Amerika“, welches von Auguste Lazar verfasst wurde und 1935 erschienen ist., glaube ich, hieß der Titel. Und da ging es um eine polnische jüdische Frau, die in die USA auswanderte und ich war total aufgeregt von diesem Buch und kam nach Hause und erzählte meiner Mutter von diesem Buch. Und dann sagte sie zu mir: na, aber das ist ja auch deine Familiengeschichte. Und in dem Augenblick war es dann für, wurde es für mich klar und ich weiß, dass das für mich so ein Moment der Erleuchtung irgendwie war, weil ich dann die Treppe runter rannte und da diese Treppenabsätze so runtersprang und immer wieder: „I'm jewish, I'm jewish...“ Schnitt

    00:01:42 Gelbin: Als die Rykestraße Synagoge 78 wieder eröffnet wurde, da hatte mein Vater gesagt: Da gehen wir jetzt, da gehen wir hin. Und dann sind wir da alle hingegangen, zusammen als Familie, meine Mutter und ich, wir saßen oben auf der Frauenempore, mein Vater saß unten, und also ich sah meinen Vater zum ersten Mal mit Kippa oder mit so einer Kopfbedeckung. Ich weiß gar nicht, ob es tatsächlich eine Kippa war. Und bei den Gebeten wusste er auch immer, wann er mit aufstehen musste, also das hatte er irgendwie noch drin, offensichtlich, von dem Kinderheim. So intuitiv: wann aufstehen und wann hinsetzen. Also wusste ich, es gibt eine jüdische Gemeinde und dann bin ich da eben mal hingegangen, in die Bibliothek. Da saß dann die Frau Kirchner Renate Kirchner, Frau von Peter Kirchner (1971–1990 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin) leitete bis 2001 die dortige Bibliothek in der Oranienburger Straße. und ich muss so 16, 17 Jahre alt gewesen sein. Und dann habe ich sie gefragt, ob es nicht eine Jugendgruppe gibt. Und dann sagte sie Ja, die gibt es. Und dann ging ich eben in die Jugendgruppe der jüdischen Gemeinde. Und das war dann ganz wichtig für mich, dass ich so ein kulturelles, jüdisches Selbstverständnis entwickelt habe. Schnitt

    00:02:47 Gelbin: Das war für mich selber natürlich unheimlich komplex, dass ich mit elf bis 13 mein jüdisches Comingout hatte und mit 15, 16, mit 15 bis 18 mein queer Comingout hatte. Und also ich glaube, die, die allererste Frage war für mich: Wie bringe ich das alles unter einen Hut? Also gut, deutschsein: um mich rum waren ja alle deutsch, amerikanisch sein: meine Familie hatte ich und auch die Freunde der Familie und die Sprache Englisch, die wir zu Hause sprachen. Jüdisch: hatte ich den Anschluss an die jüdische Gemeinde und die Jugendgruppe gefunden und hatte auch jüdische Freunde, die jetzt in meinem Alter waren. Aber mit dem queer. Das war so tabuisiert in der DDR, dass ich da überhaupt keinen Anschluss irgendwie hatte. Und dann hatte ich auch so zwei Freundinnen, wo wir uns auch so ganz vorsichtig irgendwie irgendwann geoutet hatten. Aber da gab es irgendwie keine, keinen sozialen Kontext, in dem wir uns irgendwie hätten einordnen können. Am Ende dieses Prozesses, als ich dann beschlossen hatte, dass ich eben auch als Lesbe offen leben will und dass ich auch glücklich sein will und dass ich nicht wie mein Vater und meine Großmutter mein Leben für eine Idee opfern will. Das war dann der Punkt, wo ich erkannt habe, dass ich hier in der DDR nicht bleiben kann.  Cathy Gelbin stellte 1984 einen Ausreiseantrag und reiste 1985 nach Westberlin aus. Zu den Hintergründen und Erfahrungen vgl. auch das Interview mit Cathy Gelbin: „Meine beste Waffe sind meine Worte, mein Wissen und meine Stimme“, in: Deutschland Archiv, 15.8.2024, www.bpb.de/551311. Und das ist für mich auch in der Oppositionsbewegung der DDR wahrscheinlich nur, also von der ich gehört hatte, nicht nicht viel Platz gegeben hätte damit.

    Empfohlene Zitation

    Interview mit Cathy Gelbin vom Februar 2023, veröffentlicht in: Jüdische Geschichte[n] in der DDR, <https://ddr.juedische-geschichte-online.net/quelle/source-303> [13.11.2025].