Interview mit Ruth Benario vom 14.09.1989

Quellenbeschreibung

Bei dem hier geführten Interview handelt es sich um ein Gespräch mit Ruth Benario (Benario), welches am 14.09.1989 in Ostberlin von Jeffrey M. Peck (Peck) durchgeführt wurde. Ausschnitte des Interviews finden im Dokumentarfilm „Chronik einer Rückkehr. Lebenswege deutscher Juden in der DDR“, welcher 1993 veröffentlicht wurde, Niederschlag. Das Interview ist eines von drei Interviews, die in den Jahren 1989 bis 1990 geführt wurden.

    00:05:02 Jeffrey M. Peck (Peck): Wieso sind Sie in die UdSSR gegangen und da geblieben? Und dann können Sie uns auch über ihren Beruf als Fotograf, wie das da angefangen hat in der UdSSR, etwas erzählen.

    00:05:10 Ruth Benario (Benario): Die Sache war die, dass ein guter Freund von mir eine Einladung hatte, für drei Monate in die Sowjetunion zu fahren, um dort Vorträge zu halten. Er ist theoretischer Physiker und er durfte jemanden mitnehmen und hatte mir gesagt, ich soll mitkommen. Zuerst wollte ich nicht, weil ich Fotografie studierte und eigentlich gerne das Studium zu Ende machen wollte, aber er meinte unbedingt, ich soll mit, man weiß nicht, wann man wieder dort hinkommt und letzten Endes habe ich mich dann entschlossen wird unterbrochen

    00:05:52 Peck: Aus. Frau Benario, Sie müssen mich angucken.

    00:05:54 Benario: Hallo? Wo war ich denn?

    00:05:56 Peck: Wir fangen nochmal an.

    00:05:58 Benario: Das kann man ja nicht. Ich bin doch kein Schauspieler, der das zigmal wiederholen kann. Also gut.

    00:06:08 Peck: Gucken Sie mich an und erzählen Sie weiter.

    00:06:09 Benario: Machen wir. Schon, ist in Ordnung. Ja, also er  ein guter Freund von ihr, der theoretischer Physiker war hat eine Einladung bekommen in die Sowjetunion, um dort drei Monate Vorträge zu halten, durfte jemanden mitbringen und hat mir gesagt, ich soll, ach so, mit ihm mitkommen. Und da habe ich zuerst nicht mitfahren wollen, weil ich mitten in der Fotoausbildung war und sagte: Ich will nicht. Aber er meinte, man weiß nie, wann nochmal eine Gelegenheit kommt, ich soll unbedingt mitfahren. Und dann waren so kleine Zwischendispute, aber letzten Endes habe ich dann eben doch gesagt: Ich komme mit. Und dann sind wir zusammen hingefahren und er sofort natürlich in sein Institut und hat dort mit den Menschen gesprochen. Wir sind zuerst nach Charkow gefahren, weiter sollten wir nach Leningrad und nach Moskau. Also, wir waren in Charkow und er war fort in seinem Institut. Was macht ein Mensch, der Fotografie studiert? Er schnallt sich die Spiegelreflex  Spiegelreflexkamera vorn Bauch, fährt mit der Elektrischen  elektrisierte Straßenbahn, ich konnte kein Russisch, bis irgendwohin, zur Endstation wollte ich. Denn ich dachte, da komme ich am besten wieder zurück. Die Endstation war aber in Charkow der Bahnhof. Zu dieser Zeit – es war Anfang der 30er-Jahre – gingen die Züge furchtbar unregelmäßig und es lagerten vor dem Bahnhof eine irrsinnig große Menge Menschen: für einen Westeuropäer irrsinnig interessant, denn da waren Kirgiesier mit fünfzig kleinen Zöpfchen, da waren Grusinier mit solchen riesen Fellmützen und solchen Nasen, da waren Usbeken mit den kleinen Mützchen, was wird unterbrochen

    00:08:26 Benario: unverständlich Ich bin für ein Jahr an und für sich, nach äh, in die Sowjetunion gefahren, aber daraus wurden dann zwanzig Jahre Sowjetunion und zwei Jahre China.

    00:08:42 Peck: Ok, gut. Schnitt

    00:08:45 Benario: unverständlich drei große Lieben gehabt in meinem Leben, wenn ich achtzig Jahre alt geworden bin, das wäre ja stinke langweilig. Aber das kann ich ja nicht alles erzählen – ich weiß nicht was sie da wollen – gut, also ich mache, wie ihr wollt. Also ich habe – läuft es? – drei Mal war ich lange Zeit mit Menschen zusammen – mit Männern – und dann gab es natürlich verschiedene Affären, das ist ja verständlich. Aber ich muss sagen, dass… alle waren Juden. Ich habe irgendwie eine starke Beziehung zum jüdischen Wesen und das liegt mir, scheint es, besser. Und den letzten Mann – ich habe nie geheiratet – weil ich einen Blödsinn fand das Papierchen. Wozu brauche ich das Papierchen? Wenn ich jemanden gern habe bin ich mit ihm zusammen und wenn nicht, dann türme  umgangssprachlich: sich aus etwas befreien; hier auf eine partnerschaftliche Beziehung bezogen ich. Aber mit dem letzten Mann musste ich mich verheiraten, denn man hatte mir gesagt – ich wollte ihn auf den jüdischen Friedhof bringen nach Weißensee in unser Familiengrab. Daraufhin sagte man mir in der Buchhaltung vom Friedhof: Ja, wo sind denn die Papiere, dass sie mit ihm verheiratet sind? Hm. Da sagte ich: Ja, die sind verloren gegangen irgendwie in der Sowjetunion – wir haben in der Sowjetunion geheiratet. Ja, aber die sind doch so furchtbar ordentlich. Das kann doch nicht möglich sein.  Benario paraphrasiert Also dachte ich, was machen wir? Welchen Trick benutzen wir? Und da habe ich meinen Schwiegersohn, der mir sehr behilflich war die ganze Zeit, hatte ich gebeten kurz vor sieben Uhr, wenn die Leute schon gerne nach Hause gehen wollen, bringt er den Pass – den Personalausweis von meinem Mann – und meinen dorthin. Dort stand bei beiden die Adresse drauf geschrieben. Also wir haben zusammengewohnt. wird unterbrochen

    00:11:00 Peck: Entschuldigung, das ist auch… Schnitt

    00:11:02 Benario: Wo fangen wir an? Ich hatte drei Männer, mit denen ich längere Zeit zusammen war. Aber verheiratet war ich nie mit ihnen, denn ich kann das nicht leiden, das Papierchen, da hingehen und Papierchen haben. Entweder ist man zusammen und hat sich gern oder man geht auseinander. Aber beim letzten Mann musste ich doch mir ein Papierchen holen. Ich durfte ihn nicht mit beerdigen lassen. Auf unser Familiengrab durfte ich ihn nicht hinlegen. Und so bin ich dann brav zum Standesamt gegangen und wir wurden Mann und Frau; leider oder wie man sagen will. Mir war es vorher ja vollkommen egal. Also, wir wurden Mann und Frau. Bums. Schnitt Aber gut, das wird zu lange. Die Zeit von Stalin. Es war ja auch für uns Hitler. Es war ja nicht nur Stalin, den wir im Rücken hatten und der uns derart viel Kummer bereitet hat und Aufregung. Zum Beispiel war es – ich habe in einer Gemeinschaftswohnung gelebt, wo siebzehn Menschen gewohnt haben in fünf verschiedenen Zimmern. Jedes Mal eine Familie in einem Zimmer und natürlich hatte jedes Zimmer seine Klingelanlage von eins bis fünf, nein, sogar bis sechs – nach uns war auch noch jemand. Wir hatten das Klingelzeichen Fünf. Unter Stalins Zeiten wurde man nachts abgeholt. Und da ging es dann los. Wenn es anfing zu klingeln, lag man – oder wenn sich irgendetwas vorher schon mal rührte, fängt da ne Klingel an – und dann zählte man. Und wartete man. Und wartete: Ist man dran? Oder ist es noch nicht soweit? Es war derart nervenzerreißend, es ist nicht wiederzugeben.

    00:13:27 Peck: Pause. Schnitt

    00:13:30 Benario: Nein, nicht mit Sibirien. Das hat mit China zu tun. Denn, da muss ich doch ganz kurz – das will ich aber – halt – erstmal ins Unreine sagen, ob euch das auch recht ist. Und zwar… wird unterbrochen Schnitt Nach Ostberlin bin ich zurückgekommen; erstens Mal, weil ich schon, wie gesagt, zwanzig Jahre in der Sowjetunion war und nun meinte, ich muss wieder zurück nach Deutschland und muss jetzt dort helfen. Ich kam zurück – selbstverständlich in die DDR – denn für mich war es klar. Ich bin nicht in ein Konzentrationslager gekommen. Meine ganze Familie ist vergast worden oder verschleppt worden. Und dafür musste ich danken und das Regime passte mir natürlich weitaus besser als das, was mir gegenüberstand in der BRD. Dazu war meine Tochter dreizehn Jahre, ich wollte ihr auch keinen Schock geben. Sie war so eingestellt auf Ostberlin, dass ich das nicht hätte tun können. Und dann kam noch dazu: mein Mann wollte unbedingt rüber, sofort, er ist Rechtsanwalt gewesen und meinte, dass er dort drüben bessere Chancen hat, aber ich sagte: Nein. Wenn er will, soll er gehen. Er blieb. Genau wie ich. Punkt. Schnitt

    00:15:08 Peck: Gucken Sie mich an.

    00:15:10 Benario: In den 20er-/30er- Jahren war ich noch fast ein Kind – ein junges Mädchen – und man war eine Deutsche. Wir sind in die Synagoge gegangen, wir haben unsere festen Plätze in der Synagoge gehabt, zu sämtlichen Feiertagen sind wir hingegangen. Ansonsten waren wie nicht fromm und ich habe die verschiedensten Freundinnen und Freunde gehabt und wir haben über Religion nicht gesprochen.

    00:15:43 Peck: Ok, Pause.

    00:15:44 Benario: Punkt. Schnitt

    00:15:47 Benario: Nach dem Krieg, als wir das alles durchgemacht hatten und man von überall gesehen hat, was das wichtigste ist; Mensch muss man sein, da gab es für mich eigentlich nichts anderes: Ich war ein Mensch. Und ich war ein jüdischer Mensch. Verflucht nochmal. Aus!

    00:16:13 Peck: Pause. Das Interview wird unterbrochen.

    00:16:15 Peck: So, jetzt können wir machen.

    00:16:17 Benario: Nachdem das alles passiert ist, was passiert ist, würde ich mich eigentlich als Jüdin begreifen. Ich kann nicht sagen: Ich bin deutsche Jüdin oder ich bin sowjetische Jüdin. Ich bin einfach eine Jüdin und ich habe das Gefühl, dass ich überall zu Hause bin.

    00:16:45 Übergang

    00:17:21 Peck: Wichtig nur, wenn Sie sagen, weil Sie keine männliche Nachfolge haben, dass dann die Kinder Benario beendet den Satz

    00:17:27 Benario: … von sich aus gesagt haben, sie möchten gerne Benario heißen Peck greift den Satz wieder auf.

    00:17:31 Peck: …sie keine männliche Nachfolge haben und vielleicht, dass der eine sich sehr für das Jüdische interessiert.

    00:17:36 Benario: Ja.

    00:17:37 Peck: Ok? Ganz kurz.

    00:17:38 Benario: Ja. Benario stöhnt auf

    00:17:41 Peck: Ok, gucken Sie mich dann an.

    00:17:43 Benario: Ich kann nicht reden und sie angucken. Ich muss irgendwo anders hingucken. Läuft es schon?

    00:17:48 Peck: Ja ja.

    00:17:49 Benario: Es war so, dass – weil ich keinen männlichen Nachfolger habe – der Name Benario verschüttgegangen wäre. Es wäre kein Benario mehr da gewesen. Und mein älterer Enkelsohn interessiert sich sehr für das jüdische Wesen – für die Tradition – und von sich aus sagte er: Omi, ich möchte Benario heißen. Und so sind wir ins Rathaus gegangen und haben das möglich gemacht, dass er Benario heißt. Und der Kleinere ist dann nachgekommen. Und als er seinen Personalausweis bekam, wurde er auch Benario. Schluss. Schnitt

    00:18:40 Benario: …ich sage: Macht nichts. Das sagte ich eben. Benario wird von Peck unterbrochen.

    00:18:44 Peck: Und jetzt die Frage in Bezug auf ihren Bruder, der in Israel gestorben ist. Rolf Benario, geboren 10.10.1906 in Berlin, gestorben 6.5.1984 in Ramat haScharon.

    00:18:40 Benario: Ich war gerade – es war 1984 – in Israel und war mit meinem Bruder zusammen und ganz plötzlich starb er. Das war natürlich sehr schlimm. Es war für mich merkwürdig in einem fremden Land, unter fremden Menschen, mit fremder Sprache war ich dort, als er starb. Und genau dasselbe hatte ich vor fünfzig Jahren schon erlebt, als meine Tochter starb. Das war 1935, als ich noch fremd in der Sowjetunion war, unter fremden Menschen, mit fremder Sprache. Also genau dasselbe wiederholte sich nach fünfzig Jahren bei mir wieder.

    00:19:42 Peck: Pause.

    00:19:43 Benario: Punkt.

    00:19:44 Peck: Gut. Schnitt

    00:19:43 Benario: …meinen ganzen Mut zusammen. bei dem Satz handelt es sich um einen Gesprächsausschnitt zwischen Peck und Benario,der nicht vollständig aufgezeichnet worden ist. Als wir nach Berlin kamen, haben wir zuerst im Hotel gewohnt und nach zwei Monaten protestierte ich und sagte: Ich möchte meine eigene Wohnung haben. Und ich bekam eine Wohnung mit vier Zimmern und man fragte mich, ob ich die Wohnung behalten möchte. Ich könnte genauso gut auch eine andere Wohnung haben. Ich war so erschüttert von dieser Wohnung, denn in Moskau lebte ich in einer großen Wohnung, in der in jedem Zimmer eine andere Familie wohnte. Wir waren 17 Menschen und ich wohnte dort in einem neun Quadratmeter Kellerzimmer. Aufwachen taten wir mit elektrisch Licht, schlafen gingen wir mit elektrisch Licht. Neuneinhalb Quadratmeter für vier Leute. Hier kam ich her und bekam diese Wohnung. Tagelang, wochenlang ging ich in die einzelnen Zimmer und konnte nicht fassen, dass ich alleine mit meiner Familie hier wohne. Dass ich in der Küche alleine wirtschaften kann und nicht warten muss, bis irgendjemand fertig ist. Punkt.

    00:21:12 Peck: Gut. Schnitt

    00:21:54 Benario: Mein Verhältnis zu Israel ist sehr gut – ich war viermal dort. Ich bin im Lande von Norden nach Süden, von Osten nach Westen gereist und habe mir alles angesehen. Aber es ist mir – es muss sein, wann die von überall angegriffen werden die Menschen. Aber sie sind sehr nationalistisch und das stört mich. Ich würde dort nicht leben wollen – hingefahren bin ich jedes Mal mit großem Interesse und mit großer Liebe zu diesem Land und zu dem Volk. Aber, wie schon gesagt, dort leben, möchte ich nicht.

    00:21:54 Peck: Pause. Schnitt

    00:21:55 Benario: …die überall oder nirgendwo zu Hause ist. Wir sind derart durchgewürfelt worden, ich war in den verschiedensten Ländern und habe mich überall gut gefühlt, aber zu Hause bin ich nirgends. Bei dem Satz handelt es sich um einen Gesprächsausschnitt zwischen Peck und Benario, der nicht vollständig aufgezeichnet worden ist. Schnitt

    00:22:11 Peck: Ok.

    00:22:12 Benario: Ich wohne in Pankow

    Empfohlene Zitation

    Interview mit Ruth Benario vom 14.09.1989, veröffentlicht in: Jüdische Geschichte[n] in der DDR, <https://ddr.juedische-geschichte-online.net/quelle/source-33> [27.07.2024].