Bei dem hier geführten Interview handelt es sich um ein Gespräch mit Konstantin Münz (Münz), welches am 24.11.1990 von Jeffrey M. Peck (Peck) und Martin Pátek (Pátek) durchgeführt wurde. Das Interview fand im Centrum Judaicum statt.
00:00:01 Jeffrey M. Peck (Peck): Kostja. Was hat es sich für Dich persönlich verändert seit der Wiedervereinigung?
00:00:08 Konstantin Münz (Münz): Ich habe eine feste Anstellung. Und ja, das ist die wesentliche Veränderung, dass ich jetzt also nicht mehr freiberuflich tätig bin, sondern eine feste Arbeit habe – hier in der Stiftung Neue Synagoge, Berlin, Centrum Judaicum.
00:00:27 Peck: Aber was hat sich für Dich denn verändert seit der Wiedervereinigung in Bezug auf dein Empfinden als Jude dann und auch als DDR-Bürger und dann vielleicht auch als Deutscher?
00:00:42 Münz: Na, ich habe ja schon mal erklärt, dass ich eigentlich die Trennung nicht mag zwischen mir als Jude und als DDR-Bürger oder Deutscher. Das Problem ist: Es hat sich für uns alle hier in dieser ehemaligen DDR, an die sich keiner mehr erinnern will, unheimlich viel verändert. Und... Aber die Veränderungen machen für mich nicht das Problem. Wenn du nach dem Problem mit der Veränderung, wenn für dich Veränderung gleich Problem ist, dann kann ich sagen, also die Veränderungen sind für mich, also die politischen Veränderungen sind für mich nicht das Problem. Damit kann man leben, damit muss man leben. Das sind halt die geschichtlichen Läufe. Ich kriege Probleme damit, dass das Trauma unserer Eltern also Deiner und meiner Elterngeneration ich live hier jetzt heute miterleben konnte. 45 Jahre nach dem Holocaust sind wieder einmal nur fünf Schuldige gesucht und kein einziger Verantwortlicher. Also immer dieses Gerede darum: Wir haben von all dem nichts gewusst, was ja im letzten Jahr ziemlich intensiv so Gegenstand unserer Gespräche war, wie diese Verdrängungsmechanismen funktionierten in diesem Volk. Ich habe jetzt live erlebt; Ich konnte das sehen ja, wie Geschichtslosigkeit aus dem Bauch kommt. Also die Leute im Brustton der Überzeugung behaupten, mit all dem nichts zu tun gehabt zu haben.
00:02:42 Peck: Hast du Beispiele dafür?
00:02:45 Münz: Ja, überall. Überall. Also das krasseste Beispiel ist unsere Polizei. Und... Aber so im täglichen Leben merkt man das viel. Irgendwann hat es... Also am deutlichsten war es zu spüren, oder das größte Trauma für mich war dieser verlogene Umgang der Leute miteinander, also zum Beispiel in der Regierung von de Maizière. Wenn man sich überlegt, wie diese CDU Mitglieder mit sich und ihrer eigenen Geschichte umgegangen sind. Und das ist dann das politische Trauma dann gewesen, dass diejenigen, die die Wende in der DDR gemacht haben, bei den Wahlen hinten runtergefallen sind. Also, so meine ich das, also konkret benennen. Ich kann jetzt keinen konkreten… Münz wird unterbrochen
00:03:45 Peck: Aber in Bezug auf Dein Jüdisch-Sein und Dein Judentum sozusagen. Merkst Du das irgendwie?
00:03:51 Münz: Ne, gar nicht. Also, was so die jüdischen Befindlichkeiten anbetrifft, hat sich da für mich nichts geändert, weil das, was da , das was jetzt deutlicher einfach sichtbarer wird, ist ja nicht eine Sache, die neu ist, sondern ist ja immer dagewesen. Also alles, was sich jetzt so an Problemen zeigt, was so an rechtsextremistischen Ausschreitungen hier in dem Land passiert seit einem Jahr, ist nicht mehr geworden, sondern nur sichtbarer, weil der Apparat, der dafür bezahlt wurde, dass keiner es mitkriegt, nicht mehr da ist.
00:04:41 Peck: Aber zum Beispiel, wenn man guckt ja, was ja passiert in der Woche, bei der, bei diesem Auftreten von Gysi, wo „Jude raus“ geschrien worden war. Als er aufgetreten ist. Wie reagierst Du auf so was hier wie diese Rechtsradikale?
00:05:02 Münz: Ja, es ist kompliziert zu beschreiben. Also, wenn ich sage, dass es jetzt nicht mehr geworden ist, sondern nur sichtbarer, sage ich das nicht, um es zu verniedlichen, sondern um es deutlich zu machen, dass die Wurzeln nicht in der Wende liegen dafür. Und wenn bei einem Auftritt von Gysi mit „Jude raus“ gebrüllt wird – ja, das ist das kultivierte Unwissen. Ich will es nicht entschuldigen. Ich habe damit Probleme wie jeder andere. Aber es ist [...] das pöbelhafte Verhalten von Kleinbürgern, die in ihm nur noch was Schlimmes sehen müssen. Sie wissen nur nicht, was sie mit dieser Verbindung, mit dieser Gedankenverbindung bei Jude, bei Gysi Jude zu assoziieren und bei Jude „Jude raus!“ zu assoziieren. Das ist eine Kette, was sie damit antun und was sie sich selber damit antun. Das ist für mich das Wesentliche, denn... Münz wird unterbrochen
00:06:17 Martin Pátek (Pátek): Entschuldigung darf ich kurz... also Du meinst, dass das dieses Ausmaß jetzt von Rechtsextremismus eigentlich nicht größer ist als früher, ja?
00:06:26 Münz: Man sieht es mehr, man sieht es mehr. Die Bereitschaft es vorher zu tun, war auch da. Vorher gab es nur einen unheimlich massiven Apparat. Und das war nicht nur die Stasi, die dann mit massiver Polizeigewalt oder mit Verhaftungen oder mit Prozessen gedroht hat, sondern es war das indoktrinierte soziale Verhalten. Genauso wenig wie man Ausdrücke nicht gebraucht, hat man sowas nicht laut in der Öffentlichkeit gesagt. Aber es hat jetzt keiner gelernt, plötzlich „Jude raus!“ zubrüllen, sondern sie haben es für sich privat immer schon gedacht und wollten es jetzt nur... und machen es jetzt nur laut, weil es ist keiner mehr da, der es verbietet. Verstehst Du, was ich damit sagen will? Es ist bei den Leuten ein unheimlich sensibles Feeling dafür da, was nicht verboten ist, darf man tun. Und jetzt ist es nicht mehr verboten, das zu sagen, was man denkt. Also haben sie jetzt nicht denken gelernt, sondern sie haben das auch vorher schon gedacht. Erinner Dich als ich... Ich habe immer die Frage nach Antisemitismus in der DDR beantwortet in dem Zitat von Klaus Gysi, also dem Vater von Gregor, der gesagt hat, es gibt keinen Antisemitismus in der DDR, es gibt genügend Antisemiten, ja? Also für mich ist die Existenz von Antisemitismus gar nicht interessant zu diskutieren, weil Antisemitismus ist nicht immer das, was gemeint ist. Gemeint ist Judenfeindschaft. Und bei Judenfeindschaft bei lächerlichen 30.000 Juden in Deutschland ist Judenfeindschaft für mich nicht interessant. Für mich ist die Ausgrenzungsbereitschaft interessant. Also wenn Homosexuelle, Lesben, Ausländer ausgegrenzt werden, dann grenzt man auch Juden aus. Und diese Bereitschaft, die war immer da in der Bevölkerung. Und das kriegt man mit. Also auch die Fußball... das, was jetzt mit den Fußballkrawallen passiert oder mit den Krawallen in der Mainzer Straße und so mit den Hausbesetzern passiert ist. Das sind Steigerungen im Gewaltextrem. Also sie sind gewalttätiger geworden. Aber die Bereitschaft in den Fußballstadien und in der Öffentlichkeit so deutlich... Münz wird unterbrochen
00:08:47 Pátek: Fühlst du dich mehr oder weniger bedroht? Jetzt nach der Vereinigung als Jude.
00:08:56 Münz: Das ist eine komplizierte Frage. Also auch wenn es unangenehm klingt: Ich fühle mich eigentlich nicht bedroht.
00:09:11 Pátek: Und was sagst du zu diesen Auftreten von Republikanern? Zu Galinski zum Beispiel, dass sie den Galinski angreifen und nicht nur ihn persönlich, wahrscheinlich vielleicht ist etwas dahinter. Und das ist schon ein etablierter Partner. Das ist keine Straße, oder?
00:09:28 Münz: Das ist schon richtig. Aber was soll ich da sagen? Dummheit setzt sich leichter durch. Ich will es damit nicht klein machen. Für mich sind aber das Problem, für mich ist aber das Problem nicht die Republikaner als Partei. Für mich ist das Problem ein in der Gesellschaft gewachsenes oder nicht gewachsenes historisches Bewusstsein, was es möglich macht, mit mit den Argumenten von vor 50 Jahren, heute wieder Politik machen zu wollen und machen zu können, das ist für mich viel interessanter. Also die Argumente haben sich ja nicht gewechselt. Ob die Republikaner nun gegen Galinski oder gegen einen anderen vorgehen, das ist ja nicht interessant. Es wird ja nicht schlimmer, weil sie Galinski angreifen. Und es ist ja, es ist ja die Argumentation, die in ihrem Flugblatt deutlich wird.
00:11:27 Peck: Also. Aber Du hast von Dir persönlich geredet. Aber zum Beispiel von den Juden allgemein in der DDR. Vielleicht hast Du das Gefühl, dass die vielleicht was verlieren oder die was gewonnen haben? Seit der Wende, seit der Wiedervereinigung.
00:11:39 Münz: Also ich habe die Fragen jetzt erst mal so beantwortet, wie ich es empfinde. Es hat sich natürlich, und es wäre einfach falsch, wenn ich es nicht auch noch sagen würde, es hat sich für die Juden der DDR unheimlich viel verändert. Unser ganzes Grundfeeling, sage ich mal, ist ein völlig anderes. Also, wir lebten hier 40 Jahre, und das meine ich jetzt nicht als Verlust, den ich beklage, sondern nur beschreibend. Wir lebten hier 40 Jahre, ohne das Bewusstsein, uns schützen zu müssen. Ja, dass wir jetzt also hier eine unheimlich komplizierte Sicherheitsanlage haben und die Synagoge bewacht werden muss und und und und und. Das sind Wendezeichen, sage ich mal. Und das sind Dinge, die mit der Wende passiert sind. Wir haben einfach darauf zu reagieren, dass wenn alle jetzt alles sagen dürfen, es auch passiert, dass viele oder einige, je nachdem, wie man das qualitativ bewerten möchte, Dinge sagen, die uns nicht nur nicht passen, sondern auch Dinge sagen, die uns wehtun können. Wichtig ist dann für mich, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sowas gelebt werden kann. Wie reagiert also die Bevölkerung darauf? Denn es ist nun mal prägend für die deutsche Geschichte, dass unser Verhalten da gar nicht interessant ist. Weißt Du? Wie ich mich schütze, ist doch gar nicht interessant, wenn nicht genügend andere da sind, die einen demokratischen Ausgleich dazu schaffen, dass so was nicht Politik wird.
00:13:44 Peck: Aber siehst Du das dann nicht kommen, dass es vielleicht doch die Lage für die Juden entweder besser geworden ist? Oder meinst du, dass die Lage allgemein schlechter wird? Vielleicht in der Zukunft?
00:13:53 Münz: Mit besser und schlechter ist es nicht zu differenzieren. Das ist ein völlig untaugliches Bewertungsschema, ja?
00:14:01 Peck: Wie sollte man das bewerten? Was für welche Kategorien sollte man dann nutzen?
00:14:04 Münz: Also die Situation, die Situation für andere, sag ich jetzt mal, großgeschrieben, ist schwerer geworden in dem Teil Deutschlands, der jetzt FNL Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen heißt. Fünf neue Länder, ja? Also die Ausgrenzungsbereitschaft ist eine unheimlich große. Dass die Bereitschaft, einen Buhmann zu finden für die sozialen Konflikte, für die wirtschaftliche, angespannte Situation und so. Da muss man einen Schuldigen haben und den, den sucht man sich dort, wo es immer schon gesucht wurde, in dem, der nicht Vordergründig dazugehört.
00:14:58 Peck: Hast du das Gefühl, dass es schlechter wird?
00:15:02 Münz: Angespannter. Und ich bin... ich merke es an mir: Ich bin hellwach. Also, ich habe viel häufiger das Gefühl nicht mehr so unbedarft, so unkontrolliert irgendwo mich geben zu können. Also ich kontrolliere mich ziemlich genau und ich bin wahnsinnig angespannt und hellwach und gucke rum, was da so kommt. Man wird übersensibel und das ist das, was mich eigentlich stört.
00:15:57 Peck: Wie findest du die Situation mit dem wachsenden Rechtsradikalismus hier?
00:16:08 Münz: Also da muss ich als erstes sagen bedrohlich, natürlich bedrohlich, weil es ist von meiner Grundverhalten merke ich, dass ich mich anders verhalten muss. Plötzlich. Ich bin wacher, ich bin konzentrierter, sensibler. Das stört mich. Zum besseren Verständnis muss ich aber sagen, dass ich immer der Meinung war. Oder... ja immer der Meinung war, dass dieses Problem nicht ein Wendeproblem ist, das ist nach der Wende nicht mehr geworden in der DDR. Sondern meine Erfahrung hier ist einfach, dass es diese Probleme aus dem Deutschsein herrühren. Es sind die deutschen Probleme, die aus... Also wenn es, wenn es mal hieß, dass es Ausländer in der DDR leichter hatten als irgendwo in der Bundesrepublik, dann nur deshalb erstens, weil es weniger Ausländer gab und zweitens, weil es einen Apparat gab, der nicht nur in Form der Staatssicherheit materiell existent war, sondern auch in den Köpfen der Leuten da war, der bestimmte Dinge in den Bereich des Verbotenen gedrückt hat, ja? Aber von der Bereitschaft, sich ausgrenzungsbereit zu verhalten. Homosexuelle, Lesben, Ausländer und und und hatten es in der DDR nicht besser als woanders, behaupte ich. Sondern man hat sie nur nicht in der Öffentlichkeit so massiv ausgegrenzt, weil Öffentlichkeit in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik ganz anders war. So.
00:00:01 Peck: Also Kostja, wie hast du den 9. November erlebt?
00:00:06 Münz: Typisch DDR-like. Ich war in Leipzig und hab da zu tun gehabt. Ich hab eine Filmproduktion gehabt, als Aufnahmeleiter zu betreuen und kam irgendwann abends ins Hotel und hab mir diese Pressekonferenz von Schabowski angeguckt. Und sah dann im Fernsehen, was passiert ist, also, wie die Mauer aufgegangen ist und war absolut bewusstseinsgespalten, also fühlte ich mich wirklich zweigeteilt; auf der einen Seite unheimlich verrückt: Also was? Wie geht das? Das kann doch gar nicht sein. Nee. Und auf der anderen Seite: auch irgendwo froh. Also ich merkte, wie mit dieser Meldung und mit den Bildern, dass am Übergang sich die Leute drängelten und rausgingen und wieder zurück und so in meinem Kopf einen Blocker weg kam. Also mit der Meldung merkte ich an mir, dass der Blocker aus dem Kopf rauskommt. Also die Mauer in meinem Kopf hat sich als allererstes gelöst. Und so kam es dann, dass ich am 10. November in Leipzig mir in meinem Personalausweis diese Reisegenehmigung hab stempeln lassen. Ich habe mich also da von der Produktion weggeschummelt und habe mir gleich in Leipzig die Genehmigung geholt, von der Polizei dann zu fahren und bin dann, als ich am 11. November nach Berlin kam, auch gleich nach Westberlin gegangen.
00:01:49 Peck: Wie hast du dich am Tag der Vereinigung gefühlt?
00:01:51 Münz: Am 3. Oktober? Am 3. Oktober? Na, das hat so. Da habe ich mich im Prinzip schon so gefühlt wie wir im Dezember, als du da mal zwischendurch da warst, darüber geredet haben. Äh. Und es ist auch so ein Grundgefühl. Ich sage es mal so, wie ich es eigentlich vor der Vereinigung oder mit der Währungsunion oder vorher um die Währungsunion rum so richtig für mich gefühlt habe und mit meiner Frau so gesprochen hab. Eigentlich habe ich nach der Vereinigung viel mehr an Auswandern nachgedacht. Oder dass die Möglichkeit, vielleicht wegzugehen aus Deutschland, ist für mich viel näher rangekommen nach der Vereinigung als sie vorher war.
00:02:42 Peck: Warum?
00:02:48 Münz: Ich sage es mal mit so einer Headline. Volkes Wille in diesem Land macht mich skeptisch, weil das Feeling für Toleranz, das Feeling für Pluralismus nicht sehr groß ist. Ich weiß einfach nicht, ob für für mich und meine Gedanken, für mich und meine kritischen Visionen nicht weniger Platz wird.
00:03:24 Peck: Hast Du Angst vor dem deutschen Volk?
00:03:27 Münz: Ne, so kann man das nicht sagen. Da bin ich ja wieder Deutscher. Aber, ich habe Angst vor – oder Angst kann man das nicht nennen – ich bin einfach skeptisch. Ich habe nicht das Vertrauen, dass sich Vernunft multipliziert, wenn es so weiterläuft, also zum Beispiel mit diesem… wenn Politik immer nur pragmatisch reagiert, also Crisis Management betreibt, verliere ich mein Vertrauen in Politik.
00:04:07 Peck: Also die Entscheidung auszuwandern, ist eine sehr dramatische Entscheidung. Kannst du noch etwas darüber sagen?
00:04:13 Münz: Es ist ja nicht die Entscheidung auszuwandern. Die Bereitschaft, darüber auch nachzudenken, aktiv. Also ist einfach bei mir jetzt eine größere geworden. Ich habe das Feeling Weggehen – es ist ja ein DDR Feeling gewesen – früher waren wir eingekapselt und zu und sehr viele meiner Freunde, ich habe das ja schon mal erzählt seit 1972 habe ich mit dem Bewusstsein gelebt: „Freunde gehen weg aus der DDR“, irgendwohin, meistens in den Westen. Meine Trotzreaktion war, wenn ich aus der DDR weggehe, muss ich aus Deutschland weggehen und so eingekapselt, wie ich hier war oder wie wir alle hier waren, war das also so gut wie unmöglich, weil wo sollte man hingehen? Man kannte ja nichts. Jetzt kann man sich umgucken und für mich ist die Bereitschaft wegzugehen nicht kleiner geworden dadurch, dass ich reisen kann, sondern mit weggehen meine ich aus dieser Vision und aus dieser Angst, dass Intoleranz sich als Lebenshaltung durchsetzt, wird größer, also rechne ich damit irgendwann. Also, meine Seele sitzt auf gepackten Koffern. So muss ich das mal so sagen. Ich habe... Ich bin skeptisch. Ich bin skeptisch, auch weil die politischen Verhältnisse sich so hektisch, so hysterisch, so abnormal gewandelt haben.
00:05:51 Peck: Also wie würdest Du jetzt auf so diese Frage „Heimat“ reagieren? Hast du mehr Heimatgefühl?
00:05:58 Münz: Also nicht in Deutschland, sondern wenn, also bei dieser Angst oder bei dieser Angstbereitschaft weggehen zu wollen, setze ich dagegen so eine Hoffnung und die ist Europa. Also diese Vision, dieser politische Traum oder diese Chance, diese Chance für die Vision ein vereintes Europa. Äh. Die ist so der kleine Anker, der mich ialso mmer noch ein bisschen hält. Also ich für mich habe dort... Ich habe mit der Wende plötzlich das Gefühl, Europäer zu sein. Und vorher habe ich mich mehr in der Welt gefühlt. Und das ist jetzt so unkonkret. Das ist so wie so eine Blackbox. Aber Europa hat schon wieder Farben. Europa hat schon wieder auch einen Geruch für mich.
00:07:02Pátek: Ich habe auch eine These von einem Juden gehört, dass sie haben gesagt, praktisch: Du bist genauso Deutscher, wie wir. Hier kurz unverständlich. Das spielt keine Rolle, ja?
00:07:10 Münz: Na, für mich ist es ja so: Ich fühle mich ja nicht als Jude, mal als Jude, mal als Deutscher, mal als DDR-Deutscher. Und jetzt plötzlich als – was weiß ich was – Gesamtdeutscher; sondern ich fühle mich immer als ich. Und ich muss immer alles in mir gleichzeitig haben. Und ich befrage mich auch so. Und dieses Problem mit dem Rechtsradikalismus, muss ich noch mal so sagen, ich bin,ich wäre viel glücklicher, wenn man mich als Mensch danach fragte, als wenn man mich als Juden danach fragte, weil das Problem mit dem Rechtsradikalismus sehe ich als eine Bereitschaft, andere auszugrenzen. Und ich habe gar nichts davon, wenn jetzt plötzlich aufgrund einer politischen Entscheidung oder eines Wählervotums beschlossen wird, alle Deutschen lieben alle Juden, nach Hause gehen und ihre Frauen und Kinder verprügeln, Homosexuelle ausgrenzen, Lesben ausgrenzen und Ausländer hier keinen Platz haben. Weil Toleranz muss gelebt werden. Mein Wunsch ist es, in einem multikulturellen Spektrum zu leben. Wenn die Deutschen gerne Döner Kebab essen, dann müssen sie die Leute auch mögen, die ihnen das gebracht haben. Oder Aubergine und Brokkoli und und und. Weil es sind Menschen. Ich lebe gerne mit Menschen zusammen und mehrere verschiedene Menschen befruchten das Feeling und das Denken, die Kultur, die Kunst. Und dafür ist jetzt kein Platz. Zurzeit ist dafür kein Platz. Und ich, der ich so was brauche, der ich sowas immer geliebt habe, vermisse diese Anhäufung von diesen Dingen und befürchte einfach, dass sich so das Pragmatische organisieren – Deutsche sind ja Weltmeister im Organisieren, sie organisieren sich ja ihre Probleme immer nur kleiner, aber nie weg. Und ich möchte, dass Probleme aufbrechen, dass die Leute mit Problemen normal leben, um sie dann austragen zu können und zu klären. Dieses Badezimmerbewusstsein, dieses Clean, dieses Sauber-Sein, immer alles rein haben, weißer als das Weiß und reiner als rein und strahlender als strahlend. Das muss auch aus den Köpfen raus.
00:09:29 Pátek: Also einer, der deiner Meinung nach was hast du vorher ganz am Anfang gesagt hast, ist einige der Ergebnisse der Vereinigung, auch Bereitschaft, wenig tolerant zu sein, ja?
00:09:39 Münz: Ja, also da diese Intoleranz in den Leuten drin war: Der DDR-Deutsche war kein anderer Deutscher als der Bundesdeutsche. Er lebte nur unter anderen Zwängen. Und nun, wo diese Zwänge weg sind, kommt alles zum Tragen, was immer da war, was ich auch immer geahnt habe, was ich aber nie habe so doll sagen können, weil es war ja nicht da. Es gab keinen Beweis dafür, ja? Und auf die Eingangsfrage mit dem Gysi: Also, die Haltung, mit der sie früher gerufen haben „Wir sind die Fans von Egon Krenz“ ist die gleiche, mit der sie heute bei Gysi rufen „Jude raus!“ Ja? Also, da ist es dann für mich auch müßig, darüber zu diskutieren, ob er Jude ist oder nicht oder so und dass da der Geist der Nürnberger Rassegesetze dahintersteckt, die den Mann Gysi zu einem Juden machen, der er gar nicht ist nach jüdischem Recht, ja? Also das ist für mich alles schon wieder Sophistik, das brauche ich gar nicht zu diskutieren. Fakt ist, da meint einer, dass Juden raus sollen und die Frage kann ich beantworten kann: Wo sollen sie denn hin?
00:10:55 Pátek: Ist die Aktivität von von der Gemeinde, von der jüdischen Gemeinde größer jetzt nach der Vereinigung? Ich meine Ostgemeinde. Oder gleich oder kleiner?
00:11:04 Münz: Na das sind ganz andere Aktivitäten, weil die – bei Ostgemeinde meinst Du jetzt sicher Berlin? Und die Berliner Gemeinde steht vor der Vereinigung. Also sie geht wieder zusammen. Sie hat sich ja 53 gespalten in zwei Gemeinden und die Westberliner und die Ostberliner Gemeinde werden also in den nächsten Tagen und Wochen dann vereint werden zu einer großen Gemeinde und das ist auch nur gut so, also. Aber im dem praktischen Leben, so im täglichen, sage ich jetzt mal in Anführungsstrichelchen „jüdischen Leben“, hat sich nichts geändert. Und da kann es nur besser werden für uns. Es ist natürlich für das Bewusstsein angenehmer, mit 6000 zusammenzuleben als mit nur 200.
00:11:54 Peck: Aber, dass du jetzt sagst „das kann nur besser werden“ und als wir im November/Dezember gesprochen haben, warst du eher der Meinung, dass es doch uns schlechter gehen wird.
00:12:03 Münz: Aber nicht als Jude, sondern schlechter geht es uns als Menschen im Kopf. Also da geht es auch den Westberliner Juden wahrscheinlich dann schlechter, weil auch die werden sich aktiver mit bestimmten Problemen beschäftigen müssen als vorher. Vorher waren das – es war ja nicht nur Ostberlin abgekapselt, es war doch auch Westberlin abgekapselt. Man war doch, das war doch eine sterile, eine, so eine Puppenstubensituation, ja? Und plötzlich ist das weg. Jetzt ist man zusammen, jetzt ist man offener. Es macht einfach… Es ist – mit besser meine ich doch wieder als nur gut. Besser beinhaltet auch andere Probleme, verstehst Du? Das Angenehme für mich ist, ich kann mir jetzt auswählen, in welche Synagoge ich gehe oder nicht, ja? Also ich habe nicht die Chance, in eine zu gehen, ja? Es ist auch angenehm, Rosch ha-Schana zu erleben in einer vollen Synagoge oder zum Gottesdienst mal neue Gesichter zu sehen, nicht immer nur die gleichen und so. Das meine ich mit so angenehmer. Ansonsten weiß ich nicht, was für Probleme auf uns zukommen. Aber auf jeden Fall gibt es... es wird ein Spezifikum nicht mehr so leicht sein. Diese Gemeinde war ja in den letzten drei Jahren auch sozusagen so ein Schmelztiegel, so ein intellektueller Schmelztiegel für das Benennen der sozialen und kulturellen Probleme und philosophischen Diskussionen um die Klärung dieser Probleme. Dieser Schmelztiegel ist jetzt zu einem riesengroßen Topf geworden, und da fällt das nicht mehr so ins Gewicht. Also... Münz wird unterbrochen
00:13:53 Peck: Aber insofern hat man dann doch vielleicht was verloren hier: Das Spezifikum?
00:13:57 Münz: Ja, das ganze Spezifikum DDR ist ja nicht mehr da. Diese drei Länder sind ja nun mal ausra… diese drei Buchstaben sind ja nun mal ausradiert worden und das musste ganz schnell passieren, weiß ich nicht. Und in der Vereinigung, in dem Einigungsvertrag steht ja auch drin, dass also nicht mal mehr in der Straßenverkehrsordnung die Dinge, die in der alten DDR besser waren als in der Bundesrepublik, beibehalten werden dürfen. Also das Rechtsabbiegen bei Rot an bestimmten Kreuzungen. Das ist aber die... weiß ich nicht, die Bereitschaft, alles wegzuschmeißen.
00:14:35 Peck: Aber diese Bereitschaft, alles wegzuschmeißen: Ist... hast Du nicht das Gefühl, das würde die DDR ganz schlicht, also ausradiert, ohne zu merken, was vielleicht hier positiv war?
00:14:45 Münz: Na doch, aber das wollten aber auch die Menschen. Natürlich habe ich das Gefühl und das habe ich ja auch gespürt, das war ja meine, meine, meine Grund... das ist ja die Grundstimmung, die mir den Weggehen-Gedanken weiter hervorgeholt hat. Nur deshalb, also, weil das ist ein geschichtsloses Leben miteinander. In dem Augenblick, wo Leute auf der Straße stehen, die... oder eine Schuldirektorin mir erzählt, dass sie von all dem nichts gewusst hat, was in der DDR passiert ist, in dem Augenblick weiß ich doch, dass sie also mit dieser gleichen Geschichtslosigkeit, mit der sie sich betrachtet, auch meine Probleme betrachtet. Und da ist sie für mich kein, kein schützender Partner.
00:15:28 Pátek: Kannst du noch aus Sicherheitsmaßnahmen. Die Frage, die wir schon einmal weiter – was hat sich für Dich persönlich nach der Vereinigung verändert?
00:15:39 Münz: Also die persönlichste Veränderung ist, dass ich eine feste Anstellung habe, dass ich jetzt, also das erste Mal seit zwölf Jahren wieder in normalen, geregelten Verhältnissen arbeite. Ich bin also nicht mehr freiberuflich. Ich habe eine sehr gute Arbeit. Diesbezüglich geht es mir besser als vielen meiner Landsleute. Das ist die wesentlichste Veränderung. Ansonsten hat sich für mich verändert in diesem Land, dass ich mich viel mehr auf meine Mitmenschen konzentrieren muss, mit Misstrauen konzentrieren muss, dass ich misstrauischer geworden bin. Das ist das, was mich ein bisschen stört auch.
00:16:21 Pátek: Stopp.
00:16:22 Peck: Okay.
Interview mit Konstantin Münz genannt Kostja vom 24.11.1990, veröffentlicht in: Jüdische Geschichte[n] in der DDR, <https://ddr.juedische-geschichte-online.net/quelle/source-6> [14.12.2024].